Fraktale Märkte IX: Momentum – ein fundamentaler Faktor

Fraktale Märkte IX: Momentum – ein fundamentaler Faktor

Der Momentum-Faktor stellt eine der härtesten Proben für die klassische Kapitalmarkttheorie dar. Warum sollten Aktien, die in der Vergangenheit im Preis gestiegen sind, weiter im Preis steigen? Wer diese Frage beantworten will, landet relativ rasch in einer Argumentations-Kette der „Behavioral Finance“: Investoren würden hiernach diversen kognitiven Verzerrungen (Biasen) unterliegen, die verhindern, dass Investoren rational und nutzenmaximierend handeln, anders als in der modernen Portfolio-Theory von Harry M. Markowitz angenommen. Bekannte Verzerrungen sind unter anderem: der „Ankereffekt“, das Überschätzen der eigenen Fähigkeiten, die asymmetrische Beurteilung, also die stärkere Wahrnehmung von Verlusten im Vergleich zu entgangenen Gewinnen und vieles andere mehr. Im Zusammenhang mit Momentum wird oftmals der Herdentrieb auf neue Informationen genannt, aber auch die Unterreaktion und damit ist das Festhalten an vergangenen Überzeugungen gemeint.

Die fundamentale Sicht

Allerdings gibt es Arbeiten, die zeigen, dass genau dann Momentum am ausgeprägtesten ist, wenn das Herden-Verhalten niedrig ist. Drei weitere Arbeiten ziehen diese Erklärung ebenfalls stark in Zweifel (1 unten). Grundlegend ist hierbei der Abgleich der Bilanzkennzahlen mit dem jeweilig vorherrschenden Momentum-Portfolio. So konnten wir für eine Momentum-Strategie anhand der vergangenen 12 Monatsrenditen und einem 10% Dezil zwischen 2005 und 2014 mit monatlichem „Rebalancing“ auf dem Prime-Standard in Deutschland zeigen, dass über ein Drittel der Aktien länger als ein Jahr gehalten werden. Dies gilt für das Gewinner-Portfolio ebenso wie für das Verlierer-Portfolio. Für diese Kohorte können wir dann auf Basis der Jahresbilanz die mittlere Veränderung pro Jahr, von 2005 bis 2014, mit der mittleren Veränderung des Marktportfolios pro Jahr abgleichen:  

Tabelle 1:Datenquelle: Lenz und Partner AG. Gezeigt wird der mittlere Fortschritt eines Marktportfolios im Vergleich zu einem Momentum-Portfolio. Hierbei wird eine klassische Momentum-Strategie zwischen 2004 und 2015 ausgeführt (Ranking anhand der 12-Monatsrendite, monatliches Re-Balancing, Auswahl der 10 % am höchsten bewerteten Aktien). Analog wird ein Verlierer-Portfolio bestimmt, in welchem 10 % der am niedrigsten bewerteten Aktien monatlich in das Portfolio aufgenommen werden. Über ein Drittel der Aktien beider Strategien wird länger als ein Jahr gehalten. Für diese Aktien wird dann der durchschnittliche Fortschritt der Bilanzkennzahlen für den Gesamtzeitraum ermittelt. Gewinner-Portfolio (Momentum) sowie Verlierer-Portfolio (Invers Momentum) zeigen stark gegenläufige Effekte und weichen sehr vom Markt ab, wobei die Gewinne pro Anteilsschein die deutlichste Abweichung aufweisen. 

Es lässt sich relativ einfach zeigen, dass sich statistisch und im Mittel diese lang gehaltenen Momentum-Titel hinsichtlich der jährlichen Zunahme der Dividenden-Rendite, des Buchwertes, des EBIT und des Nettoergebnisses wesentlich besser entwickeln und zwar bis zum Zweifachen, als ein reines Marktportfolio. Bei den Gewinnen pro Anteilsschein ist es noch dramatischer. Hier liegt die Gewinnentwicklung pro Jahr mit einem Faktor über 4 deutlich über dem Mittelwert des Marktes. Betrachtet man die Verlierer-Aktien, also Invers Momentum, so stehen für die Investoren nicht nur erhebliche Unterrenditen an. Auch auf der Bilanzseite drohen im Mittel pro Jahr harte Einschnitte im Vergleich zum Markt. Momentum ist also ein fundamentaler Faktor. Das Ganze ist kompatibel mit den Arbeiten von Novy-Marx, der auf Basis der US-amerikanischen Quartalszahlen zeigt, dass Überraschungen bei Quartalszahlen im Wesentlichen Momentum erklärt. 

Hier spätestens muss man sich die Frage stellen, ob Investoren überhaupt in der Lage sind, Gewinnentwicklungen von Unternehmen richtig und im Sinne der Theorie der Effizienten Märkte einzuordnen. Können also Bilanzveränderungen nicht antizipiert werden? 

Wachstumsprozesse

An dieser Stelle kann man viele Beispiele aufführen, wo Unternehmen immer wieder den Markt überraschen und Preisanpassungsprozesse nach sich ziehen. Ein eindrückliches Beispiel ist sicherlich Apple, die am 9. Januar 2007 das iPhone bei einem bereinigten Aktienkurs von 13 US-Dollar präsentierten. Damals wusste man sicherlich nicht, welchen disruptiven Charakter dieses Gerät entfalten würde und welche Märkte damit geschaffen würden. Schon Ende des Jahres lag der Kurs von Apple bei 28 US-Dollar, hatte also im besten Sinne „Momentum“. Die Geschichte ist bekannt: Das Unternehmen wuchs enorm, ist im September 2018 mit einem Aktienkurs über 225 US-Dollar das größte Unternehmen der Welt und nun ein attraktiver „Value“-Titel. 

An diesem Beispiel wird sehr deutlich, warum die Theorie der Effizienten Märkte sicher im kurzfristigen Bereich eine gute Annahme darstellt, sich längerfristig aber Abhängigkeiten von der Vergangenheit (Trends) ausbilden, die von Momentum ausgenutzt werden. Natürlich verarbeitet der Markt neue Informationen effizient mit schnellen Kursanpassungen. Allerdings haben die Investoren oftmals nicht die Möglichkeit, die längerfristige Entwicklung zu antizipieren. Schon einfachste Bewertungsmodelle und Aussagen über zukünftige Kapitalströme fußen auf verschiedensten Annahmen, die dann von der tatsächlichen Entwicklung des Unternehmens oftmals überholt werden. Und so verwundert es nicht, dass Investoren immer wieder von der Gewinnentwicklung überrascht werden. 

COVID 19 – Crash und Momentum

Ein starkes Beispiel für die These ist das Rendite-Verhalten von Aktien in 2020 während der COVID – 19 Pandemie. Während ab Mitte Februar gleichsam alle Aktien von den panikartigen Verkäufen betroffen waren, setzte sich zunehmend und auch mit Quartalszahlen hinterlegt bei den Investoren durch, dass es offensichtlich Unternehmen gibt, die besser durch die Krise kommen werden als andere. So ist es auch keine Überraschung, dass Momentum Faktor-Indizes in dieser Zeit deutlich vor „Low Volatility“ und „Value“ liegen. 

Ist es nun möglich, die Dynamik der Pandemie und die Auswirkungen auf die Unternehmen wirklich zu antizipieren? Und was kann ein Investor in dieser Situation tun? Was macht eigentlich ein Roboter, der sich in einem unbekannten Raum zurechtfinden muss, von dem er kein Modell hat? Er misst das, was man messen kann – bei Aktienpreis-Zeitreihen ist es Momentum … 

 Fussnote (1) – diese sind: 

  • Chen, L., Kadan, O., & Kose, E. (2009). Fresh momentum. Working Paper. Olin School of Business, Washington University in St. Louis.
  • Novy-Marx, Robert, Fundamentally, Momentum is Fundamental Momentum (February 2015). NBER Working Paper No. w20984. Available at SSRN: https://ssrn.com/abstract=2572143
  • Berghorn, Wilhelm, and Otto, Sascha, Momentum: An Economic View, International Journal of Financial Research, Volume 8, No. 3, 2017, https://doi.org/10.5430/ijfr.v8n3p142.